Wiesenweisheit

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Wem die Stunde blüht
-Die Blumenuhr-


erschienen in Holunderelfe Nr. 30  "Ganz frisch", März 2024

Die Nachtkerze ist verantwortlich dafür, dass ich auf die Blumenuhr von Carl von Linné aufmerksam wurde. Ich hatte ihre Blüte schon oft gesehen, bevor ich erfuhr, dass diese sich abends pünktlich um 20 Uhr öffnet, und zwar so zügig, dass man dabei zusehen kann. Ich setzte mir eine Nachtkerze in den Garten, um das zu beobachten, verpasste aber immer wieder den Zeitpunkt der Blütenöffnung. Doch jetzt war meine Neugier geweckt. Auf der Suche nach Erklärungen stieß ich auf Carl von Linné. ie meisten Pflanzenfreunde kennen den schwedischen Naturforscher, weil er die zweiteilige Nomenklatur für Pflanzen entwickelt hat, zum Beispiel „Oenoterra biennis“ für die Nachtkerze. Während seines Medizinstudiums und später als Dozent pflegte er in Uppsala den botanischen Garten der Universität. Hier beobachtete er, wie er es schon als Kind im Garten seiner Eltern getan hatte, die Pflanzen ganz genau. Zusammen mit seinen Studenten hielt er die Beobachtungen über die Blühzeiten und Insektenbesuche fest. In seinem 1751 veröffentlichten Werk „Philosophia Botanica“ findet sich unter anderem die Zeichnung der sogenannten Blumenuhr. Hier hatte Linné kreisförmig die Namen von 44 Pflanzen entsprechend ihrer Blühzeiten angeordnet. Er konnte angeblich sogar die Uhrzeit bei einem Rundgang durch den Garten auf 5 Minuten genau an den Blüten ablesen und orientierte sich daran, um seinen Nachmittagstee pünktlich einzunehmen.
Warum gibt es diese unterschiedlichen Blütezeiten? Dahinter steckt das eingespielte Team von Blühpflanzen und ihren Bestäubern. Dass sie sich gegenseitig in Teamarbeit aneinander angepasst haben, nennt man Koevolution. Der Blütennektar dient den Insekten als Nahrung, die Pflanze braucht wiederum die Insekten zur Bestäubung für ihre eigene Vermehrung. Damit es nicht zu Nahrungsknappheit kommt, haben sich die Insektenarten auf verschiedene Blumenarten spezialisiert. Die Blumen richten sich dann wieder nach „ihren“ Insekten, um nicht mit anderen Pflanzen konkurrieren zu müssen. Deshalb öffnen sich ihre Blüten jeweils zu der Zeit, zu der die meisten Tiere der jeweiligen Insektenart unterwegs sind. So haben die Pflanzen individuelle Biorhythmen entwickelt, die von Linné beobachtet und erfasst wurden.


Seit dem 19. Jahrhundert wurden in einigen botanischen Gärten in Europa Blumenuhren angelegt. Zwölf Felder waren in Form von Kuchenstücken wie ein Zifferblatt angeordnet, in denen jeweils die Pflanzenart wuchs, die zur entsprechenden Stunde ihre Blüten öffnet. Die Umsetzung eines solchen Blumenuhr-Beetes ist nicht einfach, da sich die Pflanzen je nach Klimazone und Standort unterschiedlich verhalten. In Uppsala herrschen im Juni andere Wetter- und Lichtverhältnisse als hier bei uns. Auch durch unsere Sommer- und Winterzeit gibt es Verschiebungen. Letztendlich war das einer der Gründe, warum ich meine Nachtkerze nicht um 20 Uhr beim Öffnen der Blüten erwischt habe.
Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die Pflanzen oft eine Blütezeit von nur wenigen Wochen haben. Das bedeutet, dass sie für das Blumenuhr-Beet ständig nachgezogen und -gepflanzt werden müssen. Wenn, wie z.B. auf der Blumeninsel Mainau Löwenzahn und Ackergauchheil nebeneinander Platz finden und „wie Unkraut“ wachsen, müssen sie regelmäßig gejätet werden, damit sie in ihrem Kuchenstück bleiben. Eine gut funktionierende Blumenuhr ist also eine anspruchsvolle Aufgabe für den Gärtner.
Wir können uns auch einfach von Linnés Idee inspirieren lassen und die Pflanzen genauer beobachten. So habe ich mich an einem schönen Sommerabend im Garten direkt vor meiner Nachtkerze niedergelassen und geduldig gewartet. Es war fast neun Uhr, als das bezaubernde Schauspiel tatsächlich begann: die länglichen Knospen drehten sich langsam auf. Ich konnte ihnen wirklich dabei zusehen, zu guter Letzt sprang jede der wunderschönen gelben Blüten auf.
Nur eine Nacht lang warten sie duftend auf „ihre“ Insekten, am nächsten Morgen sind sie dann verblüht. Anschließend öffnet sich ganz früh zum Beispiel die Wegwarte in leuchtendem Himmelblau und streckt ihre strahlenförmigen Blütenköpfe nach Osten, der Sonne entgegen. Am frühen Nachmittag oder bei Regen verschließt sie sich wieder. Wer einen Garten hat, könnte also die frühen Blüten an den Stellen aussäen, wo er morgens auf dem Weg zur Arbeit das Grundstück verlässt. Die Nachtkerze setzen wir natürlich dorthin, wo wir am Feierabend die Füße hochlegen.
So, wie Blüten die Tageszeiten anzeigen, deuten bestimmte Pflanzen auf die Jahreszeit hin. Natürlich können das auch Kalender und Wettervorhersage, aber es macht mehr Spaß, die Natur auf diese Zeichen hin zu erkunden. Die Schneeglöckchen zeigen uns den Vorfrühling, die Lindenblüten den Hochsommer, und wenn das Eichenlaub fällt, ist Winter.
Früher waren die Menschen sehr viel stärker auf diese Erscheinungen angewiesen. Besonders die Bauern richteten sich danach und alte Bauernweisheiten greifen solche Zusammenhänge auf: „April nass und kalt, wächst das Korn wie ein Wald.“ Wenn wir uns auf die Zeichen und Rhythmen der Natur mit allen Sinnen einlassen, wird auch unseren Ohren so einiges auffallen: Die Amsel singt zum Beispiel morgens eine Stunde vor Sonnenaufgang. Wenn Kraniche im Herbst nach Süden ziehen und im Frühling zurückkommen, hören wir ihre typischen Rufe schon, bevor wir sie am Himmel sehen.
Ich bin also nicht enttäuscht, dass meine Nachtkerze nicht pünktlich um 20 Uhr ihre Blüten öffnet, denn ich weiß oder ahne, dass viel mehr hinter diesen Rhythmen steckt als der Gong der Kirchturmuhr. Man hat sogar herausgefunden, dass Blüten länger geöffnet bleiben, wenn weniger Insekten sie besuchen und sie nicht bestäubt werden. Die Blumenuhr würde dann nach gehen. Vielleicht hast auch Du Lust bekommen, bestimmte Regelmäßigkeiten in Deiner Umgebung zu erforschen und herauszufinden, was die Natur sich dabei denkt.