Wiesenweisheit

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Der Beifuß und seine Geschwister
Eine große Familie, unscheinbar und mächtig


erschienen in "Holunderelfe Sommerschätze", 2/2024


An meine erste bewusste Begegnung mit dem Beifuß erinnere ich mich noch ganz genau. Im Mai 2021 stieß auf einen Ausschnitt des Neun-Kräuter-Segens aus dem 11. Jahrhundert, eine Beschreibung der neun Kräuter, die der germanische Gott Wotan als magische Medizin benutzte. Hier geht es um den Beifuß:

„Erinnere dich, Beifuß, was du verkündet hast,
was du bekräftigt hast bei der großen Verkündung.
Una heißt du, ältestes Kraut.
Du hast Macht für drei und gegen dreißig.
Du hast Macht gegen Gift und gegen Ansteckung.
Du hast Macht gegen das Übel, das über Land fährt.“

Ich bekam beim Lesen eine Gänsehaut, denn damals drehte sich weltweit alles darum, eine solche Ansteckung zu vermeiden. Der Beifuß hatte zum ersten Mal mein Herz berührt.
Ich fand heraus, dass die Artemisia, ein Korbblütler, so präsent in allen Kulturen ist wie kaum eine andere Pflanzengattung. Es gibt wohl bis zu 400 unterschiedliche Arten vor allem in den gemäßigten Gebieten der Nordhalbkugel.
Als Pionierpflanze breitete sie sich nach dem Rückzug der Gletscher vor 10.000 Jahren aus. Mit dem Ackerbau verbreitete die Pflanzengattung sich als „Hackkraut“ weiter, also durch Umgraben und Hacken der Erde. Die Jäger rieben sich damit ein oder räucherten sich ab, um ihren Körpergeruch vor den Tieren zu tarnen.
Unseren Beifuß, Artemisia vulgaris, kennen wir heute vor allem als Gewürz zum Gänsebraten, doch gehört er schon seit Jahrtausenden zum Leben der Menschen, auch als Heil- und Schutzpflanze.
Er wächst unscheinbar überall am Wegesrand und ich hatte ihn lange kaum beachtet.  Als ich mehr über ihn las, sah ich ihn mit anderen Augen. Faszinierenderweise zeigt uns seine Gestalt mit dem rötlichen Stiel und den dunkelgrünen, grob gezähnten Blättern, deren Unterseite silbrig glänzt, ebenso viel wie seine Namen.

Gattungsname Artemisia – Nomen est Omen
Seine Namensgeberin in der Mythologie ist die Göttin Artemis. Sie hat drei Attribute, die sich in den Artemisia Arten spiegeln. Der Sage nach stieg sie sofort nachdem sie das Licht der Welt erblickt hatte in die Geburtshilfe ein: Sie wirkte unterstützend bei der Entbindung ihres Zwillingsbruders Apollo. So gilt sie als Fruchtbarkeits- und Geburtsgöttin, versorgt gebärende Frauen und Neugeborene und begleitet die weibliche Übergangsprozesse. Auch der Beifuß hat eine große Wirkkraft im Bereich der Geburt und Frauenheilkunde, kann allerdings durch seine Wirkung eine Schwangerschaft auch gefährden.
So wie Apollo der Sonnengott ist, ist seine Schwester die Göttin des Mondes. Dieser ist verantwortlich für Regulierungsprozesse wie Tag-und-Nacht-Rhythmus, die Gezeiten, Jahreszeiten, aber auch Pflanzenwachstum und Hormonhaushalt.  Zudem ist auch Artemis verbunden mit Dunkelheit, Magie und Träumen. Die Mondqualität des Beifußes sieht man an seiner silbrig schimmernden Blattunterseite. Er hat traumintensivierende Wirkung und wird oft für spirituelle Zwecke verwendet.

Artemis i
st auch die Göttin der Jagd, dient in dieser Rolle aber nicht dem Schutz der Jäger, sondern vielmehr der geordneten Absprache mit den Tiergeistern, welches Tier erlegt werden darf. Sie gilt daher als Hüterin und Beschützerin des Waldes und bekämpft Ungerechtigkeit. Die grob gezähnten Blätter des Beifußes erinnern an ein Hirschgeweih und häufig wird er zum Schutz vor den Hauseingang oder über das Bett gehängt.
Trotz der langen Anwendung auf der ganzen Welt und seiner vielfältigen Inhaltsstoffe gibt es von offizieller Stelle (Kommission E) nur eine Negativ-Monographie: Es gibt keine „gesicherte Wirksamkeit“. Das hat mich nur noch neugieriger gemacht. Ich entdeckte einige seiner Geschwister und meine Begeisterung für diese Großfamilie wuchs.

Manche von ihnen, wie der Estragon, Artemisia dranunculus, sind uns gut bekannt. Vor allem in Frankreich und Italien und auch im Kaukasus gehört er zu den bekanntesten Küchenkräutern und verfeinert Saucen, Salate und Suppen. Estragon hat folgende volksheilkundliche Bedeutung: Zum einen regt er wie der Beifuß die Verdauung an, hat aber auch beruhigende, angstlösende Wirkung. Die dafür verantwortliche chemische Verbindung Delorazepam kommt jedoch nur in geringer Menge vor.

Noch prominenter ist der Wermut, Artemisia absinthium. Das griechische Wort „absinthos“ bedeutet „ohne Vergnügen“, was sich jedoch eher auf die Bitterkeit bezieht, denn getrunken wurde der Absinth, die „grüne Fee“, trotzdem. Das Getränk erinnert uns an geheimnisvolle Geschichten um Künstler und Schriftsteller wie Oscar Wilde oder Ernest Hemingway, die sich im Absinthrausch ihre Inspiration holten. Die gesundheitsschädigende Wirkung, die der Pflanze zugeschrieben wurde, ist eigentlich auf den hohen Alkoholkonsum unter anderem dieser Herrschaften zurückzuführen. Auch Hildegard von Bingen verwendete den Wermut als Maitrunk. Er ist eines unserer bedeutendsten Bitterkräuter. Die Redewendung des Wermutstropfens deutet auf seine Verbindung mit Bitterkeit und Trauer hin.

Ein weiterer Verwandter, der Einjährige Beifuß, Artemisia annua, stammt ursprünglich aus China und Vietnam und heißt dort „Pflanze der Hoffnung“. In den 70er Jahren hat die Chinesin Tu Youyou die uralte Heilpflanze auf der Suche nach einem Malariamittel für die Soldaten des Vietnam-Krieges wiederentdeckt. Der bedeutsamste Wirkstoff ist das Artemisinin, welches antiparasitär, verdauungsfördernd, blutreinigend, entzündungshemmend, krampflösend und malariadämpfend wirkt. Die Forschungsergebnisse aus diesem Kriegsprojekt waren geheim und erst Jahrzehnte später wurde die Medikation gegen Malaria zugelassen. 2015 erhielt die damals 84-jährige Youyou dafür den Medizinnobelpreis. Die Wirkweise der Artemisia annua könnte auch für einige Krebsarten relevant sein, wozu es bisher noch wenige Studien gibt. In der Pharmazie wird ein chemisches Derivat des Artemisinin verwendet. Die Pflanze können wir als Tee, Tinktur oder als Kapseln einnehmen.
Man kann den einjährigen Beifuß aus Saatgut oder Stecklingen ziehen. Seit ich ihn „entdeckt“ habe, finden jedes Jahr einige Pflanzen bei mir Platz neben Wermut und Steppenbeifuß. Sie sind, anders als unser Beifuß, leuchtend hellgrün mit zart gefiederten Blättern. Schon bei leichter Berührung verströmen sie einen feinen zitronigen Duft, der nichts von ihrem bitteren Geschmack verrät.
Ich versuche bei jeder Gelegenheit, andere Menschen mit meiner Begeisterung für die Artemisien anzustecken und habe der unscheinbaren Macht schon einen ganzen Workshop gewidmet.